Monat: Juni 2012

„Atomausstieg, keinesfalls“

Am 27. Juni fand eine Aktionärsversammlung von Kepco, dem Energieversorger im Westjapan, statt. Mit 3’842 Aktionären war es bisher die grösste Veranstaltung. Auch zum ersten Mal brachten nicht nur Einzelaktionäre sondern auch Gemeinden Vorlage ein. Mit insgesamt 28 Vorlagen verlangten sie von Kepco einen Atomausstieg, aber die Vorlagen wurden restlos verworfen, weil sie die nötige Zweidrittel-Mehrheit nicht erreicht haben. Die Städte Osaka, Kyoto und Kobe hatten insgesamt 13 Vorlagen eingebracht.

Kepco äusserte bereits im Vorfeld, dass der Atomstrom unentbehrlich ist. Nach der Versammelung trat der Kepco-Chef Makoto Yagi vor die Medien und sagte: „Es gibt keinesfalls Atomausstieg.“ Kepco und die Regierung wollen am 1. Juli den Reaktor 3 des AKWs Oi (Präfektur Fukui) wieder ans Netz anschliessen.

Das Kernkraftwerk Oi steht auf einer aktiven Verwerfung. Kepco behauptet, dass die Einrichtungen möglichen Erdbeben standhalten würden. Es gibt aber auch warnende Stimme, dass die Bewegungskraft des Bodens unterschätzt ist. Der emeritierte Professor an der Uni Tokyo Hiromitsu Ino sowie Masashi Goto, der früher AKW-Anlage entwarf, kritisieren, dass die japanische Atomaufsichtsbehörde nicht auf die Hinweisen der Spezialisten einging und das grünes Licht zum Wiederinbetriebnahme gab.

Am 29. Juli versammelten sich tausende von Atomgegner vor dem offiziellen Wohnsitz des Prämierministers und protestierten gegen die Wiederinbetriebnahme der Reaktoren des AKWs Oi. Der Organisator spricht von ca. 200’000 Teilnehmenden, die Polizei geht von weniger als  20’000 aus. Die Kundgebung findet jeden Freitagabend am gleichen Ort statt, die letzte war bisher die grösste.

Grenze erreicht bei der Dekontaminierung

Der Wiederaufbauminister Tatsuo Hirano traf am 17. Juni mit dem Bürgermeister von Namie-machi in der Präfektur Fukushima und räumte ein, dass die Dekontaminierungstechnik an die Grenze gestossen hat.

Die Strahlungsdosis in Luft bei Strassen sank nach einer zweieinhalbminutigen Dekontamination um zwei Drittel, aber danach war fast keine Wirksamkeit mehr erkennbar. Bei Wohnhäusern schwankt die Reduktionsrate nach der Dekontaminierungsarbeit, bei der das Dach und die Wand aufgewischt wurden, zwischen 19% und 66%. Der Minister Hirano meinte, eine grossere Wirkung sei nicht zu erwarten, wenn die Dekontamination auf der gleichen Art und Weise wiederholt wird.

Wiederaufarbeitungsanlage von Rokkasho-mura wieder im Test

Am nächsten Tag wurde in der Wiederaufarbeitungsanlage für Brennelemente aus Leichtwasserreaktoren von Rokkasho-mura in der Präfektur Aomori der Probebetrieb von der Einrichtung, in der das hochradioaktive Abwasser mit Glas gemischt und fest gemacht wird, nach drei Jahren wieder aufgenommen. Der Test wurde im Dezember 2008 nach einer Störung beim Schmelzofen gestoppt.

Ratschläge von einem Betroffenen

Es steht fast fest, dass ein Reaktor im AKW Oi (Präfektur Fukui) frühestens am 1. Juli wieder hochgefahren wird. Unter Leserbriefen an die Asahi-Zeitung habe ich am 23. Juni Ratschläge für die Bewohner rund um ein Kernkraftwerk gefunden. Sie wurden von einem 63-Jährigen Mann aus Minami-Soma in der Präfektur Fukushima verfasst.

Erstens sollte man sich einen Dosismeter beschaffen. Niemals darf man sich auf den Integraldosismeter, den die Behörde verteilen würde, verlassen.

Dann sollte man wenigstens zwei Kanister Benzin in Vorrat haben und jeden Abend das Auto voll tanken. Damit eine Person eine lange Strecke nicht alleine fahren muss, sollte man im Voraus mehrere Fahrer organisieren.

Mehrere Evakuierungsmöglichkeiten in allen Richtungen sicherzustellen ist auch sehr wichtig. Sie müssen mindestens 150 km vom AKW entfernt sein. Verschiedene Routen zu den Orten checken und am besten sie einmal selber fahren.

Man soll davon ausgehen, dass das provisorische Leben mehr als ein Jahr dauern würde. Wichtige Sachen müssen so bereit gestellt sein, dass man sie jede Zeit sofort mitnehmen kann. Auf die zurückgelassenen Hab und Gut muss man verzichten, sie könnten gestohlen werden.

Am wichtigsten ist: Man muss wissen, in welcher Richtung und Distanz vom AKW das eigene Haus genau steht.  Auch jeden Morgen sowie Abend die Windrichtung und Windgeschwindigkeit checken und mehrere AKW-Arbeiter als Freund haben, um sich für einen Notfall einen Zugang zur Information zu sichern.

Dieses Know-how haben der Asahi-Zeitung-Leser und seine Frau während des Jahres angesammelt. Aber sie konnten nicht von der Stadt Minami-Soma flüchten, weil ihre Katze sich an seinem Bein fest klammert und nicht los lassen wollte.

Rund um Fukushima

Der Abschlusstermin der Petition zum Atomausstieg ist vorbei und der Exekutivausschuss der Bewegung „Leb wohl AKW (Sayounara Genpatsu)“ gab an der Kundgebung vom 6. Juni in Tokyo bekannt, dass 7,22 Millionen Unterschriften, teilweise auch aus dem Ausland, bis Ende Mai gesammelt wurden. Einen Teil der Unterschriften wurde am 12. Juni an den Präsident des Oberhauses überreicht.

An der Versammelung, an die rund 2’300 Menschen gekommen sind, appellierte Kenzaburo Oe, der Nobelpreisträger für Literatur : „Wir können nichts anders tun, als uns gegen ein Wiederhochfahren des AKWs auf unsere Art und Weise zu widersetzen. Die Unterschriftensammlung hat eine grundlegende Kraft und wird weitergeführt. Wir wollen entschlossen unsere eigene Lebensweise nach dem 11. 03 gestalten.“

Am 16. Juli wird eine Kundgebung in der Grössenordnung von 100’000 Menschen geplant.

Am 11. Juni hat eine Gruppe von Fukushima-Einwohnern gegen Tepco und die Regierung eine Anklage eingereicht. 1’324 Menschen fordern die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten.

Tepco ihrerseits hat am 20. Juni einen endgültigen Bericht über den Unfall vom Atomkraftwerk Fukushima I öffentlich bekanntgemacht. Der AKW-Betreiber sieht die grundlegende Ursache des Unfalls in der unvorhergesehenen Dimension des Tsunamis sowie in den mangelhaften Einrichtungen. Hauptsächlich verteidigt Tepco sich selbst und gibt das Versehen und die Verantwortlichkeit in Bezug auf die anfänglichen menschlichen Fehler und die ungenügende Massnahmen zum Schutz vor Naturereignissen, die die Regierung sowie private Unfalluntersuchungsausschusse hingewiesen haben, nicht zu.

Nicht nur schöne Geschichte

Vor einem Jahr, nach der verheerenden Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe, erhielten Japaner viel Lob: keine Plünderei, keine Geschrei und die Hilfsbereitschaft unter Betroffenen… Japanische Zeitungen wollten und wollen auch gerne solche schöne Geschichte erzählen. Aber selbstverständlich sind ja Japaner auch nur ein Mensch, der verschiedene Begierde und Triebe hat.

Schmutzige Seite zu enthüllen ist nicht meine Absicht. Doch sie ist auch eine Wahrheit und es gibt Opfer von solchen Taten.

In die betroffenen Gebiete gingen und gehen viele Männer sowie Frauen aus dem ganzen Land freiwillig, um den Menschen in Not zu helfen. Dort sei Vergewaltigung fast alltägliches Ereignis, so erzählte mir eine verlässliche Person in Tokyo. Ich fragte vor Ort darüber und diese Sage, die kaum von japanischen Medien erwähnt wird, wurde bestätigt.

Eine Frau, die sich für den Wiederaufbau des betroffenen Gebiets einsetzt, erzählte mir folgendes: Die Helferinnen und Helfer teilen unter Umständen über Nacht einen grossen Saal. Junge Frauen und Männer schlafen nebeneinander und die Frauen können sich vor Scham nicht wehren, wenn der neben dran liegende Mann bei ihr einen sexuellen Übergriff versucht. Die Bewohner wissen offenbar davon, dass solche Vorfälle sich oft vorkommen, aber öffentlich gesprochen wird darüber nicht.

Zur Plünderei scheint nach der Katastrophe tatsächlich nicht gekommen zu sein, aber zu Dieberei schon. Jeder Einwohner in der Gegend weiss, dass man eine runde Summe Bargeld im Kleiderschrank hat. Das ist eine Gepflogenheit von der Region Tohoku. So wurden in den verwüsteten, menschenleeren Städten und Dörfern eine Menge Geld aus den zerstörten Wohnhäusern gestohlen.

„Im Allgemeinen sind die Leute solidarischer geworden“, erzählte mir eine Frau, die nicht gross von der Katastrophe betroffen war. „Aber in der Gesellschaft ist auch eine neue Rangordnung entstanden.“ Demnach stehen an der Spitze der Liste die Menschen, die Familienangehörige verloren haben. Dann kommen jene, die ihr Haus verloren haben. Das Schlusslicht bilden diejenigen, die unversehrt aus der Katastrophen herauskamen. Das Sagen haben heute also diejenigen, die von der Katastrophe das Schlimmste erlebt haben.

Die letzteren haben zwar nichts verloren, aber sie hatten auch ihre Kummer und Sorgen, so die Frau. „Wir haben fünf Stunden gewartet, um das Auto zu tanken. Wir mussten  in der zerstörten Stadt selber Wasser holen und Nahrungsmittel suchen. Das haben die Evakuierten in der Notunterkunft alles bekommen. Und dort wurden wir von den anderen nicht akzeptiert und nach Hause geschickt, weil unser Haus noch stand.“

Sie erzählte weiter über die aktuelle Situation. „Heute ist eine andere Hilfsform als die finanzielle gefragt, weil gewisse Menschen wegen des Unterstützungsgeldes nicht gewillt, sich einen Job zu suchen, obwohl der Arbeitsmarkt genügende Stelle anbietet.“ Es gibt sicher noch Organisationen und Menschen (zum Beispiel Selbstständige oder Waise), die dringend Geld brauchen. Vor der perspektivlosen Situation könnten gewisse Menschen verzweifelt und nicht mehr in der Lage sein, ein vernünftiges Leben zu führen.

Die traurigste Geschichte, die ich vor Ort gehört habe, erzählte mir ein Journalist von der Lokalzeitung Tokai Shinpo. Der Zeitungsverlag gab im März 2012 ein Fotobuch heraus (Siehe Bericht vom 13. 06.2012), darin wurde das Geschehen gedruckt, nachdem intern viel diskutiert wurde, ob man das öffentlich machen soll oder doch nicht. Die Rücksicht auf den Täter stand im Mittelpunkt der Diskussion.

Nach dem riesigen Erdbeben versuchten viele Leute mit dem Auto zu fliehen und auf den Strassen, die zum erhöhten Ort führen, entstanden grosse Staus. Einige stiegen aus dem Auto aus und unterhielten sich oder diskutierten inmitten der Strasse. Ein Fahrer, der hinten bei der Stau stand, sah die riesigen Wellen von hinten kommen. Die Strasse war jedoch voll verstopft, er konnte weder vor- noch rückwärts fahren. Und auf dem einzigen freien Streifen unterhielten sich die Leute immer noch. Sie wussten noch nichts vom anrückenden Tsunami.

Eine idyllische Szene aus Kesennuma: zwei Frauen unterhalten sich am Fluss.

Eine idyllische Szene aus Kesennuma: zwei Frauen unterhalten sich am Fluss.

Der Fahrer musste sich in dem Moment entscheiden, den eigenen Tod durch Tsunami hinzunehmen, oder eine Chance zum Überleben zu packen, indem er die Leute auf der Strasse überfährt. Er hat sich für das letztere entschieden.

Hiermit beende ich die Berichte über meine Tohoku-Reise, die dank vielen Helfern vor Ort und in Tokyo zustande kam. Ich bedanke mich herzlich bei diesen Freunden und Bekannten für die Unterstützung und auch bei Ihnen, dass Sie diese Berichte gelesen haben.

Noch lange nicht verdaut

Am 18. Mai fuhr mich Herr Usui von Lokalzeitung „Tokai Shinpo“ sogar nach Kamaishi. Der Besuch war völlig überraschend.

Meine Reise: von Süden nach Norden: Kesennuma → Rikuzen-Takata → Ofunato → Kamaishi.

Meine Reise: von Süden nach Norden: Kesennuma → Rikuzen-Takata → Ofunato → Kamaishi.

Herr Usui wollte mich Herrn Chiba vorstellen. Er ist einer der Protagonisten des Buchs „Die Leichname“, bei dem es sich um die Bewältigung der massenhaften Leichen des Tsunami-Opfers handelt. Früher arbeitete der pensionierte, kleine und rundliche Mann, der immer noch sehr aktiv ist und verschiedene Ehrenamte übernimmt, in einem Bestattungsinstitut.

Am 11. März 2011 verwüstete der Tsunami auch einen Teil der Stadt Kamaishi und raubte hunderten Menschen das Leben. Herr Chiba, der viel Erfahrung hatte, wie man mit der Leiche umgehen soll, half in der Sporthalle, in der die Leiche gesammelt wurden, den Beamten, die verlegen, ängstlich und tatenlos dastanden.

Herr ChibaDie Arme des seelenlosen Körpers waren oft nach vorne gestreckt und die Beine gebogen. Er massierte die Glieder, so dass die Leichnam mehr oder weniger einen ruhigen Eindruck gab. Wenn er durch die Halle ging, sprach er einzelnen toten Menschen an, wie: „Tut mir leid, dass Sie in der kalten Halle warten müssen. Aber bald kommen sicher Ihre Familie, um Sie abzuholen.“ So „betreute“ er die zahlreiche Leichname.

Er erzählte auch, dass der Zustand der Leiche, die gefunden wurde, im Lauf der Zeit sich veränderte. Nicht wegen der Verwesung, sondern wie folgendes: Die ersten Leichen wurden hauptsächlich im Auto gefunden. Ihr Körper waren überhaupt nicht beschädigt. Als nächstes wurden die Leichen unter zerstörten Gebäuden und Trümmern gefunden. Sie hatten teilweise Körperteile verloren. Und jene, die im Schlamm lagen, wurden am Schluss gefunden, und bei ihnen waren der Mund und die Ohren voll mit dem Schlamm verstopft.

Ich habe das Buch schon vor der Reise gelesen. Beim unerwarteten Treffen sagte mir Herr Chiba, „ich sprach den Leichen immer an. Sonst bekommt man doch Angst.“ Die Menge der gesammelten Leiche war gewaltig. Selbst für Herr Chiba, der genug Erfahrung mit den toten Menschen hatte, war die Situation damals furchterregend.

Das Buch wird bald verfilmt, im nächsten Winter sollte er in japanischen Kinos zu sehen sein.

Im ersten Blick scheinen direkt Betroffene und indirekt Betroffene den Schock der Katastrophe bereits überwunden zu sein. Aber wenn man ein etwas längeres Gespräch mit ihnen führt, merkt man doch, dass die Wunde tief in die Seele hineingereicht hat. Viele Leute haben psychische Probleme. Selbst Herr Usui, der immer ein Lächeln im Gesicht hat, gestand mir, er hätte das ganze Geschehen noch lange nicht verdaut. Er verlor auch einen Kollegen.

Auch Herr K., ein Arbeitskollege von Herrn Usui, hat Problem. Er verlor sein Haus. Er leidet unter Schlaflosigkeit und benötigt Medikamenten. Seine Frau erzählte mir von einem Bekannten, der sich umbrachte, nachdem er seine Frau und zwei Kinder am 11. März verloren hatte.

Aber etwas Tröstend und Ermutigend erlebte das Ehepaar auch, als ihr völlig zerstörtes Haus abgebrochen wurde. Die Demontage kam sehr langsam voran, weil, so Frau K., die Arbeiter sehr vorsichtig und aufmerksam arbeiteten, weil sie die Gegenstände, die für die Familie wichtig und teuer sein könnten, nicht kaputt machen wollten.

„Ich hätte gerne die Fotos unserer Hochzeit abgeholt. Aber sie waren sicher dreckig, so habe ich darauf schon verzichtet“, erzählte sie. „Doch ein Arbeiter hat uns eines Tages angerufen und mitgeteilt, dass sie die Fotos sichergestellt haben!“

Herr S., ein anderer, etwas jüngerer Arbeitskollege von Herrn Usui, ist Mitglied des Feuerwehrs (zivil). Die Feuerwehrleute hatten damals unter anderem die Aufgabe: die Suche nach Leichen. Weil er tagsüber in der Druckerei arbeiten musste, patrouillierte er in der Nacht die Stadt und am freien Tag nahm er an der Suchaktion teil.

Als ich ihn fragte, ob er über diese Tätigkeit erzählen könnte, sagte er zuerst, er wolle lieber nicht mehr daran zurückdenken. Ich fragte nicht mehr weiter, aber schliesslich erzählte er doch ein bisschen davon. Er fand insgesamt fünf Leiche. Am schlimmsten seien jene im Auto gewesen. „Jede Leiche hatte eine Haltung, als ob sie einen Fluchtgang suchte. Danach habe ich oft von diesen Leichen geträumt.“ Wie ich geahnt habe, erhalten die Zivilschützer, die nicht für solche überdimensionale Aktion ausgebildet sind, keine psychische Betreuung.

Herr S. verlor am Katastrophentag einen guten Kollegen vom Zivilschutz. Der Schock sitzt immer noch tief. „Zwei Tage vorher habe ich mit ihm zusammen geübt“, sagte und senkte er den Blick.

Slide Show - Kamaishi ViaduktZur Diashow Kamaishi