Am 18. Mai fuhr mich Herr Usui von Lokalzeitung „Tokai Shinpo“ sogar nach Kamaishi. Der Besuch war völlig überraschend.
Herr Usui wollte mich Herrn Chiba vorstellen. Er ist einer der Protagonisten des Buchs „Die Leichname“, bei dem es sich um die Bewältigung der massenhaften Leichen des Tsunami-Opfers handelt. Früher arbeitete der pensionierte, kleine und rundliche Mann, der immer noch sehr aktiv ist und verschiedene Ehrenamte übernimmt, in einem Bestattungsinstitut.
Am 11. März 2011 verwüstete der Tsunami auch einen Teil der Stadt Kamaishi und raubte hunderten Menschen das Leben. Herr Chiba, der viel Erfahrung hatte, wie man mit der Leiche umgehen soll, half in der Sporthalle, in der die Leiche gesammelt wurden, den Beamten, die verlegen, ängstlich und tatenlos dastanden.
Die Arme des seelenlosen Körpers waren oft nach vorne gestreckt und die Beine gebogen. Er massierte die Glieder, so dass die Leichnam mehr oder weniger einen ruhigen Eindruck gab. Wenn er durch die Halle ging, sprach er einzelnen toten Menschen an, wie: „Tut mir leid, dass Sie in der kalten Halle warten müssen. Aber bald kommen sicher Ihre Familie, um Sie abzuholen.“ So „betreute“ er die zahlreiche Leichname.
Er erzählte auch, dass der Zustand der Leiche, die gefunden wurde, im Lauf der Zeit sich veränderte. Nicht wegen der Verwesung, sondern wie folgendes: Die ersten Leichen wurden hauptsächlich im Auto gefunden. Ihr Körper waren überhaupt nicht beschädigt. Als nächstes wurden die Leichen unter zerstörten Gebäuden und Trümmern gefunden. Sie hatten teilweise Körperteile verloren. Und jene, die im Schlamm lagen, wurden am Schluss gefunden, und bei ihnen waren der Mund und die Ohren voll mit dem Schlamm verstopft.
Ich habe das Buch schon vor der Reise gelesen. Beim unerwarteten Treffen sagte mir Herr Chiba, „ich sprach den Leichen immer an. Sonst bekommt man doch Angst.“ Die Menge der gesammelten Leiche war gewaltig. Selbst für Herr Chiba, der genug Erfahrung mit den toten Menschen hatte, war die Situation damals furchterregend.
Das Buch wird bald verfilmt, im nächsten Winter sollte er in japanischen Kinos zu sehen sein.
Im ersten Blick scheinen direkt Betroffene und indirekt Betroffene den Schock der Katastrophe bereits überwunden zu sein. Aber wenn man ein etwas längeres Gespräch mit ihnen führt, merkt man doch, dass die Wunde tief in die Seele hineingereicht hat. Viele Leute haben psychische Probleme. Selbst Herr Usui, der immer ein Lächeln im Gesicht hat, gestand mir, er hätte das ganze Geschehen noch lange nicht verdaut. Er verlor auch einen Kollegen.
Auch Herr K., ein Arbeitskollege von Herrn Usui, hat Problem. Er verlor sein Haus. Er leidet unter Schlaflosigkeit und benötigt Medikamenten. Seine Frau erzählte mir von einem Bekannten, der sich umbrachte, nachdem er seine Frau und zwei Kinder am 11. März verloren hatte.
Aber etwas Tröstend und Ermutigend erlebte das Ehepaar auch, als ihr völlig zerstörtes Haus abgebrochen wurde. Die Demontage kam sehr langsam voran, weil, so Frau K., die Arbeiter sehr vorsichtig und aufmerksam arbeiteten, weil sie die Gegenstände, die für die Familie wichtig und teuer sein könnten, nicht kaputt machen wollten.
„Ich hätte gerne die Fotos unserer Hochzeit abgeholt. Aber sie waren sicher dreckig, so habe ich darauf schon verzichtet“, erzählte sie. „Doch ein Arbeiter hat uns eines Tages angerufen und mitgeteilt, dass sie die Fotos sichergestellt haben!“
Herr S., ein anderer, etwas jüngerer Arbeitskollege von Herrn Usui, ist Mitglied des Feuerwehrs (zivil). Die Feuerwehrleute hatten damals unter anderem die Aufgabe: die Suche nach Leichen. Weil er tagsüber in der Druckerei arbeiten musste, patrouillierte er in der Nacht die Stadt und am freien Tag nahm er an der Suchaktion teil.
Als ich ihn fragte, ob er über diese Tätigkeit erzählen könnte, sagte er zuerst, er wolle lieber nicht mehr daran zurückdenken. Ich fragte nicht mehr weiter, aber schliesslich erzählte er doch ein bisschen davon. Er fand insgesamt fünf Leiche. Am schlimmsten seien jene im Auto gewesen. „Jede Leiche hatte eine Haltung, als ob sie einen Fluchtgang suchte. Danach habe ich oft von diesen Leichen geträumt.“ Wie ich geahnt habe, erhalten die Zivilschützer, die nicht für solche überdimensionale Aktion ausgebildet sind, keine psychische Betreuung.
Herr S. verlor am Katastrophentag einen guten Kollegen vom Zivilschutz. Der Schock sitzt immer noch tief. „Zwei Tage vorher habe ich mit ihm zusammen geübt“, sagte und senkte er den Blick.
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