Nicht nur schöne Geschichte

Vor einem Jahr, nach der verheerenden Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe, erhielten Japaner viel Lob: keine Plünderei, keine Geschrei und die Hilfsbereitschaft unter Betroffenen… Japanische Zeitungen wollten und wollen auch gerne solche schöne Geschichte erzählen. Aber selbstverständlich sind ja Japaner auch nur ein Mensch, der verschiedene Begierde und Triebe hat.

Schmutzige Seite zu enthüllen ist nicht meine Absicht. Doch sie ist auch eine Wahrheit und es gibt Opfer von solchen Taten.

In die betroffenen Gebiete gingen und gehen viele Männer sowie Frauen aus dem ganzen Land freiwillig, um den Menschen in Not zu helfen. Dort sei Vergewaltigung fast alltägliches Ereignis, so erzählte mir eine verlässliche Person in Tokyo. Ich fragte vor Ort darüber und diese Sage, die kaum von japanischen Medien erwähnt wird, wurde bestätigt.

Eine Frau, die sich für den Wiederaufbau des betroffenen Gebiets einsetzt, erzählte mir folgendes: Die Helferinnen und Helfer teilen unter Umständen über Nacht einen grossen Saal. Junge Frauen und Männer schlafen nebeneinander und die Frauen können sich vor Scham nicht wehren, wenn der neben dran liegende Mann bei ihr einen sexuellen Übergriff versucht. Die Bewohner wissen offenbar davon, dass solche Vorfälle sich oft vorkommen, aber öffentlich gesprochen wird darüber nicht.

Zur Plünderei scheint nach der Katastrophe tatsächlich nicht gekommen zu sein, aber zu Dieberei schon. Jeder Einwohner in der Gegend weiss, dass man eine runde Summe Bargeld im Kleiderschrank hat. Das ist eine Gepflogenheit von der Region Tohoku. So wurden in den verwüsteten, menschenleeren Städten und Dörfern eine Menge Geld aus den zerstörten Wohnhäusern gestohlen.

„Im Allgemeinen sind die Leute solidarischer geworden“, erzählte mir eine Frau, die nicht gross von der Katastrophe betroffen war. „Aber in der Gesellschaft ist auch eine neue Rangordnung entstanden.“ Demnach stehen an der Spitze der Liste die Menschen, die Familienangehörige verloren haben. Dann kommen jene, die ihr Haus verloren haben. Das Schlusslicht bilden diejenigen, die unversehrt aus der Katastrophen herauskamen. Das Sagen haben heute also diejenigen, die von der Katastrophe das Schlimmste erlebt haben.

Die letzteren haben zwar nichts verloren, aber sie hatten auch ihre Kummer und Sorgen, so die Frau. „Wir haben fünf Stunden gewartet, um das Auto zu tanken. Wir mussten  in der zerstörten Stadt selber Wasser holen und Nahrungsmittel suchen. Das haben die Evakuierten in der Notunterkunft alles bekommen. Und dort wurden wir von den anderen nicht akzeptiert und nach Hause geschickt, weil unser Haus noch stand.“

Sie erzählte weiter über die aktuelle Situation. „Heute ist eine andere Hilfsform als die finanzielle gefragt, weil gewisse Menschen wegen des Unterstützungsgeldes nicht gewillt, sich einen Job zu suchen, obwohl der Arbeitsmarkt genügende Stelle anbietet.“ Es gibt sicher noch Organisationen und Menschen (zum Beispiel Selbstständige oder Waise), die dringend Geld brauchen. Vor der perspektivlosen Situation könnten gewisse Menschen verzweifelt und nicht mehr in der Lage sein, ein vernünftiges Leben zu führen.

Die traurigste Geschichte, die ich vor Ort gehört habe, erzählte mir ein Journalist von der Lokalzeitung Tokai Shinpo. Der Zeitungsverlag gab im März 2012 ein Fotobuch heraus (Siehe Bericht vom 13. 06.2012), darin wurde das Geschehen gedruckt, nachdem intern viel diskutiert wurde, ob man das öffentlich machen soll oder doch nicht. Die Rücksicht auf den Täter stand im Mittelpunkt der Diskussion.

Nach dem riesigen Erdbeben versuchten viele Leute mit dem Auto zu fliehen und auf den Strassen, die zum erhöhten Ort führen, entstanden grosse Staus. Einige stiegen aus dem Auto aus und unterhielten sich oder diskutierten inmitten der Strasse. Ein Fahrer, der hinten bei der Stau stand, sah die riesigen Wellen von hinten kommen. Die Strasse war jedoch voll verstopft, er konnte weder vor- noch rückwärts fahren. Und auf dem einzigen freien Streifen unterhielten sich die Leute immer noch. Sie wussten noch nichts vom anrückenden Tsunami.

Eine idyllische Szene aus Kesennuma: zwei Frauen unterhalten sich am Fluss.

Eine idyllische Szene aus Kesennuma: zwei Frauen unterhalten sich am Fluss.

Der Fahrer musste sich in dem Moment entscheiden, den eigenen Tod durch Tsunami hinzunehmen, oder eine Chance zum Überleben zu packen, indem er die Leute auf der Strasse überfährt. Er hat sich für das letztere entschieden.

Hiermit beende ich die Berichte über meine Tohoku-Reise, die dank vielen Helfern vor Ort und in Tokyo zustande kam. Ich bedanke mich herzlich bei diesen Freunden und Bekannten für die Unterstützung und auch bei Ihnen, dass Sie diese Berichte gelesen haben.

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