Monat: Juni 2012

Von Rikuzen-Takata nach Ofunato

Unter regnerischem Himmel verabschiedete ich mich von Herrn Ito. Frau Kinno fuhr mich weiter nach Ofunato, in ihre Heimatstadt. Im Auto erzählte sie mir, was sie am Katastrophentag auf einer Strasse zwischen Wäldern auf einer Erhöhung weit entfernt vom Meer erlebte.

Als der Tsunami kam, war sie ausserhalb der Stadt mit dem Auto unterwegs und versuchte am Abend nach Ofunato zurückzufahren. Viele Strassen in die Stadtmitte waren mit den Trümmern nicht mehr fahr- sowie fast begehbar. Es war bereits dunkel, plötzlich sah sie eine Menge Menschen entgegen kommen. Sie waren ausnahmslos patschnass und erschöpft, gingen mit blassem Gesicht und schweren Schritten an ihrem Auto vorbei.

Sie entkamen dem monströsen Tsunami knapp, aber wussten nicht, ob ihre Familienangehörigen am Leben waren oder nicht. Diese Menschen waren auf der Suche nach dem Verbleib ihrer liebenden. Am Rand des Scheinwerfers sahen sie wirklich wie Zombies aus, sagte Frau Kinno.

In Ofunato hatte ich um vier Uhr einen Termin bei der Lokalzeitung „Tokai Shinpo“. Frau Kinno pflegt auch Kontakt mit dem Zeitungsverlag. Er veröffentlichte das Fotobuch „Chinkon (Beruhigung der Seelen Verstorbener) in zwei Bändern ein Jahr nach der Katastrophe. Darin sind unzählige schreckenerregende, aber wertvolle Fotos, die auch von Bewohnern geschossen wurden, zu sehen. Es enthält auch eine DVD, eine einstündige Aufnahme der wütenden Bucht von Ofunato mit einer gewaltigen Kraft.

Am nächsten Tag, dem 18. Mai, wollte ich eigentlich wieder alleine in der Stadt herumfahren, aber das Wetter spielte leider nicht mit, und Herr Usui von Tokai Shinpo bot mir eine ganztätige Begleitung mit dem Auto an. Ich war natürlich sehr froh darüber. Allerdings spürt man und nimmt man alles viel besser wahr, wenn man mit eigenen Beinen durch die Stadt geht.

Slide Show - Ofunato - TitelbildZur Diashow Ofunato 2012

In Ofunato soll der gesunkene Boden 3 m erhöht werden. Das Problem ist überall gleich: Wann beginnt die Arbeit? Was macht man mit dem Grundstück, dessen Besitzer gestorben ist oder vermisst wird? Wie lange dauert die Erhöhungsarbeit? Was ist mit den provisorischen Gebäuden während der Arbeit? Wenn das Grundstück erhöht wurde, vielleicht in sieben oder acht Jahren, kann man dort wirklich wieder Gebäude bauen? Soll ich es warten, oder in einem anderen Ort ein neues Leben anfangen?

In Ofunato weiss man so viel: Zwischen den Gleisen und dem Meer wird kein Wohnhaus mehr gebaut. Herr Suzuki von der Boutique Sumire (siehe Diashow Ofunato) sagte: „Wir haben keine Perspektive. Alle haben Angst, ob wir hier bleiben können.“

Herr Toshiaki Saito, der Geschäftsführer der Firma „Kamome no Tamago“, war auch besorgt darüber, dass die Planung des Wiederaufbaus gar nicht recht vorankommt. Der Hauptsitz seiner Firma war auch vom Tsunami zerstört (siehe Diashow Ofunato). Er machte einen Film mit seinem Handy, als die Erde heftig bebte. In dem kurzen Film ist zu sehen, wie er seine Mitarbeiter auffordert, sofort zu evakuieren, weil er ahnte, dass das Erdbeben ein Tsunami auslösen würde.

http://www.youtube.com/watch?v=0VTGY4KKpFA

In einem kleinen Bach neben dem Hauptsitzgebäude springen unzählige Fische beim Erdbeben platschend hoch.

Video von Kesennuma und Rikuzen-Takata

Von Kesennuma nach Rikuzen-Takata

Mit einer Reisschale gebacken

Mit einer Reisschale gebacken

Am nächsten Morgen ging ich nochmals kurz in die Stadt, um einen Blumenstrauss zu kaufen. Wieder zum Markt „Murasaki-Ichiba“, zum gleichen Laden wie vorigen Tag. Ich verlass bereits den

Laden, als der ältere Geschäftsinhaber mir nachkam und ein kleines Stück Kuchen in die Hand drückte.

Er sagte, „Das habe ich selber gebacken. Ganz einfach gemacht, aber nicht schlecht. Menschen wie Sie dürfen so was beim Gehen essen, es sieht sicher cool aus.“ Ich bedankte mich herzlich, aber ass den Kuchen erst im Hotelzimmer als Dessert.

Slide Show - Kesennuma I - Gasse-KesennumaZur Diashow Kesennuma II

Um zehn Uhr kam Frau Minako Kinno von Ofunato mit dem Auto zum Hotel, um mich abzuholen. Ich wollte eigentlich mit dem Bus nach Ofunato fahren (ca. 1 Stunde), aber am vorigen Abend stellte es sich heraus, dass es nur zwei Busse pro Tag von Kesennuma nach Ofunato fahren und dass man frühestens erst um drei Uhr nachmittags in Ofunato ankommt.

In der Tohoku-Region bewegt man sich in der Regel mit dem eigenen Auto. Das Netz des öffentlichen Verkehrs ist nachholbedürftig, zumal wurden die Gleise vom Tsunami weggespült. Man weiss noch nicht, ob die Linie einst wieder hergerichtet werden. Frau Kinno, die freischaffende Lokaljournalistin und die Verantwortliche für die Administration des provisorischen Verkaufsstände-Vereins, fuhr mich zuerst in die Stadt Rikuzen-Takata.

Dort warteten auf mich einige junge Leute von der NPO (Nichtgewinnorientierte Organisaition) „Save Takata“ in einem Containerhaus auf einer erhöhtem, vom Meer weit entfernten Ort. Sie koordinieren Events im Rahmen der Wiederaufbau-Arbeit sowie Medien und unterstützen den Einwohnern, dass sie wieder selbstständig leben können.

KieferVon dieser Gruppe kam Herr Satoru Ito mit uns, um mir die Stadt (wenn man den Ort noch so nennen kann) zu zeigen. Der grosse Teil von Rikuzen-Takata ist flach. Deshalb war der Tsunami hier besonders kräftig, so dass „die Häuser nicht weggespült wurden, sondern aufgeplatzt haben“, erzählte Frau Kinno.

Wir fuhren zum Meer. Meine beiden Begleiter, die Rikuzen-Takata gut kennen, waren seit der Katastrophe nie mehr an der Küste. Es war unerträglich für sie, mit der völlig veränderte Landschaft zu konfrontieren.

Rikuzen-Takata war stolz auf ihren bildschönen Kieferwald am Strand. Von den abertausenden Kiefern überlebten den Monster-Tsunami nur zwei. Der Zustand einer Kiefer war nach dem Tsunami noch ziemlich gut, Japaner nannten sie deshalb „Die alleinstehende Kiefer des Wunders“. Aber heute sieht sie sehr krank aus. Die Blätter sind schwarz verfärbt, die innere Seite des Stamms fing an zu faulen.

Sie ist mittlerweile landesweit bekannt und in der sogenannten „Goldenweek“ – vier Nationalfeiertage in einer Woche – vom Ende Mai kamen zahlreiche Touristen nach Rikuzen-Takata, um den Wunder zu schauen.

Ich hatte vor der Reise ein Bedenken: Darf ich in den Katastrophengebieten, wo unzählige Leute im Nu starben oder wichtige Menschen und Sachen verloren, nur so bloss einige Tage herumfahren und die Ruinen, die in den Einwohnern immer wieder Trauer und Ohnmacht auslösen, wenn sie sie anblicken, fotografieren?

Darüber sprach ich mit einigen Einwohnern, alle sagten mir, „Fotografieren und übermitteln Sie die Lage dieser Gegend.“ Frau Kinno und Herr Ito hatten sich auch lange überlegt, ob sie heute die verwüstete Stadt und Küste fotografieren wollen. Sie wollten nicht einfach als neugierige Touristen betrachtet werden. Schliesslich entschlossen sie sich aber doch, mit mir die Landschaft zu fotografieren, denn „wenn wir heute es nicht tun, werden wir es nie tun.“

Slide Show - Rikuzen Takata -TitelbildZur Diashow Rikuzen-Takata

In Kesennuma mit dem Velo

Am 16. Mai fuhr ich mit dem Leihvelo und der Stadtkarte, die vor der Tsunami-Katastrophe gedruckt wurde, die Stadt Kesennuma herum. Mein Hotel, Pearl City, befand sich gegenüber dem Bahnhof Kesennuma. Diese Gegend blieb vom Tsunami verschont.

Aus dem Fenster des Hotelzimmers

Aus dem Fenster des Hotelzimmers

Von der Bergseite her fuhr ich dem kleinen Fluss Kamiyamagawa entlang in Richtung Meer. Die Äste der Kirschbäume am Fluss waren mit rosaroten Blüten verziert, auf der anderen Seite der schmalen Strasse standen die provisorischen Wohnungen auf einem Schulhof. Hier auch noch keine Spur von der Katastrophe.

Ich besuchte die Region Tohoku, weil ich schon kurz nach der Tsunami-Katastrophe einen Drang hatte, mit eigenen Augen das Ausmass der Katastrophe zu sehen. Als eine Japanerin wollte ich mich selbst in diese zerstörte Landschaft, die durch die Jahrtausende Naturkatastropheentstand, hineinlegen und mit Leib und Seele fühlen, was dort passiert war.

Ausserdem wollte ich selber von den Betroffenen erfahren, was sie erlebt haben und in welcher Situation sie sich heute befinden, um darüber auf dieser Seite zu berichten.

Fundament-mit-Raps Slide Zur Diashow Kesennuma I

Über Mittag traf ich mich mit Frau Megoi Kajiwara, einer Mitgliederin von „Ganba Kesennuma“, einer Bürgergruppe, die den Wiederaufbau der Stadt unterstützt. Sie fotografiert seit der Katastrophe unregelmässig verschiedene Stadtviertel, ich leihe ihre Fotos für diese Seite ab und zu aus.

Provisorische Einkaufsstrasse "Murasak Ichibai"

Provisorische Einkaufsstrasse „Murasak Ichibai“

Der Treffpunkt für das Mittagessen war das Nudelsuppe-Restaurant „Mambo“ (siehe Bericht vom 13. 01. 2012) in der provisorischen Einkaufsstrasse „Murasaki Ichiba“. Sie hatte nur eine Stunde Mittagspause, kam trotzdem eigens mit dem Auto zum Restaurant, um sich mit mir zu treffen.

Das Wohnhaus von Frau Kajiwara, der Mutter einer Tochter, steht auf einem erhöhten Ort, wo die  riesigen Wellen nicht erreichten. Aber sie entrissen das Elternhaus. Sie wohnen jetzt in einer provisorischen Wohnung.

Viele Leute haben ihr Haus und auch Arbeitsplatz verloren. Sie bekommen heute das Arbeitslosengeld. Ausbezahlt wird es normalerweise höchstens 330 Tage lang, die von den Katastrophen Betroffenen können es ausnahmsweise bis auf 210 Tage länger empfangen. Frau Kajiwara erzählte mir, es gäbe Leute, die die Stadt verlassen und anderswo eine Arbeit suchen wollen, wenn sie kein Arbeitslosengeld mehr erhalten können. Die Stadt Kesennuma hat ihre Bewohner schon vor der Naturkatastrophe verloren. Die Anzahl der Bewohner wird wie viele andere Provinzen immer kleiner. Ohne Perspektive, eine Arbeit finden zu können, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass die Stadt schneller verschrumpft.

Nach der Mittagspause setzte ich mich erneut auf das Velo und fuhr weiter in Richtung zum Stadtviertel Shishiori, das auch vom Tsunami gross betroffen war.

Um fünf Uhr brachte ich mein Velo zum Touristenbüro beim Bahnhof zurück. Danach begab ich mich zum Café des Hotels, um den Durst zu stillen. Nach der Mittagspause fuhr ich nämlich wie vormittags ohne Pause durch die Stadt. Als ich am Tisch die Stadtkarte anschaute, sprach die Frau, die mir Kaffee brachte, mir an und erzählte, wie sie den 11. März erlebte.

Ihr Haus steht auf einer Erhöhung und sie selbst sichtete den Tsunami nicht. „Nachdem die riesigen Wellen zurückzogen, ging ich in die Stadt runter. Was ich sah war eine völlige Zerstörung weit und breit. Ich stand einfach fassungslos da.“ Ihre Stadt war verschwunden, überall lagen Trümmer und dazwischen auch Leichen. Drei Autos stapelten aufeinander, das oberste war umgeschlagen. Das Ausmass der Verwüstung war zu gigantisch und deshalb nicht realistisch“, sagte die Frau im Restaurant. Später hörte ich von verschiedenen Leuten dieselbe Empfindung, dass das ganze ihnen wie ein Film vorkam.

„Eineinhalb MonaSchmetterlingten habe ich gelebt, um zu leben.“ So schilderte sie das Leben unmittelbar nach der Katastrophe. „Wir hatten kein Wasser, kein Benzin und auch keinen Strom. Die Symptome von der Demenz meines Vaters haben sich verschlechtert und er wollte unbedingt <nach Hause>. Das Haus ohne Strom und Wasser schien ihm das Eigenheim wie ein fremdes Haus.“

Nach dem grössten Erdbeben, das je in Japan registriert wurde, suchten noch zahlreiche Nachbeben die Gegend. „Sie waren auch ziemlich gross. In der Nacht hörte ich im Bett immer wieder das Donner von den Erschütterungen des Erdbodens.“

Kesennuma sei eine schöne Stadt gewesen, sagte sie weiter, während sie mir verschiedene Fotobücher, die nach der Katastrophe veröffentlicht wurden, zeigte. Als ich die Tränen nicht unterdrücken konnte, während ich ihr erzählte, was ich in der Stadt, die grössenteils nur noch aus Fundamenten des Gebäudes besteht, sah, sagte sie mir,  „Danke, dass Sie für uns weinen.“ Sie und die Stadtbewohner haben aber keine Zeit zu weinen. Bis die Stadt wieder bewohnbar wird, braucht es ungemein viel zu tun.

Das Abendessen nahm ich alleine im Hotel-Restaurant. Nach dem Essen kam das Servierpersonal, eine ältere Frau, zu mir und zeigte ihre Werke aus Papier. Sie verziert die Esstische mit verschiedenen Dekorationen, die sie jede Jahreszeit umtauscht. Ich durfte davon nach Hause mitnehmen, was mir gefiel. Ich wählte die Schmetterlinge. „Denken Sie bitte an Kesennuma, wenn sie sie sehen“, sagte sie mir lächelnd.