Eine Rede an einer Anti-AKW-Demo

Ein halbes Jahr nach dem katastrophalen Unfall in Fukushima fanden an verschiedenen Orten Japans Anti-AKW-Demos statt. Am 19. September trafen sich laut Organisator 60’000 Menschen am Meiji Park in Tokyo zusammen und appellierten für den Atomabstieg.

Darunter war auch Frau Ruiko Muto von „Hairoaction Fukushima“, einer Gruppe, die am 23. November 2010 gegründet wurde und vom 26. März 2011 – an dem Tag vor 40 Jahren wurde der Reaktor 1 des AKWs Fukushima in Betrieb genommen – während eines Jahres verschiedene Aktionen zur Stilllegung des AKWs lancieren will.

Frau Muto sprach an der Versammlung, an der auch der mit dem Nobelpreis geehrte Schriftsteller Kenzaburo Ooe teilnahm. Hier ist ihre Rede, die zum Teil  mit zitternder Stimme gehalten wurde.

http://www.youtube.com/watch?v=kzidM16QIzs&feature=related

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Guten Tag, meine Herren und Damen. Ich komme aus Fukushima.

Aus meiner Präfektur sowie von verschiedenen Zufluchtsorten kamen viele Fukushima-Bewohner mit den nach einander reihenden zahlreichen Busen her. Viele Leute nehmen zum ersten Mal an einer Versammlung oder Demonstration teil. Wir motivierten uns gegenseitig, nach Tokyo zu fahren, um die Traurigkeit des AKW-Unfalls von Fukushima mitzuteilen. Wir müssen die Stimme gegen Kernkraftwerk erheben.

Zuerst möchte ich meinen tiefsten Respekt gegenüber jener einzelnen Person, die seit dem 11. März alles tut, um unser Leben zu schützen, ausdrücken.

Und bei den Kindern und jungen Menschen, die nun durch den Unfall enorme Lasten zu tragen haben, möchte ich mich als die dazu verantwortliche Generation vom Herzen entschuldigen. Es tut mir wirklich leid.

Meine Damen und Herren, Fukushima ist ein sehr schöner Ort. Im Osten erstreckt sich die Küstenstrasse, Hama-Dori. Die Zentralstrasse, Naka-Dori, ist eine Schatzkammer der Früchte wie Pfirsich, Nashi (Birne) und Apfel. Um den See Inawashiroko und den Berg Bandaisan breitet sich die Ebene Aizu aus, wo ein Meer der goldigen Reisähre mit hängendem Halm zu sehen ist. Dahinten schwebt die Silhouette der dichten Wälder. Blaue Berge und reines Wasser, das ist unsere Heimat.

Seit dem AKW-Unfall vom 11. März fällt die unsichtbare Radioaktivität auf unser Land  nieder und wir sind „Hibakusha (Strahlenopfer)“ geworden. Im riesigen Wirrwarr passierte uns vieles.

In der Schlucht zwischen der schnellst lancierten Sicherheitskampagne und der Angst wurden menschliche Beziehungen auseinander zerrissen. In verschiedenen Gebieten, am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Familie, wie viele Menschen litten und grämten sich überhaut? Tagtäglich mussten wir uns gern oder ungern entscheiden: Fliehen oder nicht fliehen? Essen oder nicht essen? Die Wäsche draussen aufhängen oder nicht? Dem Kind eine Mundschutz aufsetzen oder nicht? Das Feld pflügen oder nicht? Etwas sagen oder den Mund halten? Wir mussten viele verschiedene bitterlichen Entscheide treffen.

Und nun im Laufe dieses halben Jahres wurde langsam deutlich, dass

– die Wahrheit verborgen wird.

– der Staat die Bevölkerung nicht schützt.

– der Unfall noch nicht vorbei ist.

– aus der Bevölkerung der Präfektur Fukushima ein Versuchsmaterial wird.

– die immense Menge radioaktive Abfälle zurückbleiben.

– es ungeachtet der grossen Opferung immer noch einen Einfluss der AKW-Befürworter gibt .

– wir im Stich gelassen wurden.

Wir seufzen tief vor Erschöpfung und unerträglicher Trauer.

Trotzdem nehmen wir in den Mund unwillkürlich Worte wie „Verspott uns nicht!“ oder „Nimm uns das Leben nicht weg!“

Die Bürger in Fukushima stehen nun wütend und trauernd langsam auf.

– Um ihre Kinder zu schützen, stehen Mütter, Väter, Grossmütter und Grossväter auf.

– Um sich ihrer Zukunft nicht berauben zu lassen, stehen jüngere Generationen auf.

– Um bei der Aufräumarbeit im AKW zu helfen, stehen die Arbeiter, sich einer grossen Menge der Radioaktivität aussetzend, auf.

– Von der Verzweiflung vor der kontaminierten Erde stehen die Bauern auf.

– Um durch die radioaktive Strahlung keine neue Diskriminierung und Trennung hervorzurufen, stehen Menschen mit Behinderung auf.

Und jede einzelne Person zieht den Staat und Tepco zur Rechenschaft und ruft aus: „Kein AKW mehr!“

 Wir sind „Oni“, der Teufel, von Tohoku geworden, der still vor Wut kocht.

Wir, die Menschen aus Fukushima, wollen unser Leben leben, egal ob man die Heimat verlässt oder nicht, wir wollen das Leiden, die Verantwortung und die Hoffnung miteinander teilen und gegenseitig unterstützen. Bitte suchen Sie eine Verbindung mit uns! Geben Sie Acht auf unsere Aktionen: Verhandlungen mit der Regierung, Gerichtsverhandlungen über Evakuierung, Evakuierung und Erholung der Betroffenen, Dekontaminierung und Messung der Radioaktivität, Lernen über AKW und Radioaktivität.

Wir gehen überall hin, um über Fukushima zu erzählen. Heute hält ein Freund von uns eine Rede im fernen New York. Wir tun alles Mögliches. Bitte helfen Sie uns! Bitte vergessen Sie Fukushima nicht!

Noch etwas möchte ich hier mitteilen: Über unseren Lebensstill.

Wir sollten uns vorstellen, wie die Welt auf der anderen Seite der Steckdose, in die wir oft einfach automatisch einen Stecker stecken, aussieht. Wir sollen daran denken, dass die Bequemlichkeit und die Entwicklung auf einer Basis gewisser Diskriminierung und Opferung standhalten. Das AKW steht auf der anderen Seite dieser Steckdose.

Die Menschheit ist lediglich eine Art vieler Lebewesen, die auf unserem Planet leben. Gibt es noch andere, die die Zukunft eigener Art berauben?

Ich möchte leben als solch ein ehrliches und aufrichtiges Lebewesen, das mit dem schönen Planet Erde im Einklang steht. Ich möchte mit der Energie sparsam umgehen und, wenn auch bescheiden, ein ideevolles, wohlhabendes und kreatives Leben führen.

Wie kann man eine neue Welt, die im Gegenpol zum AKW steht, schaffen? Dazu kann niemand eine klare Antwort geben. Wir sollen aber nicht mehr einfach einem Entscheid folgen, sondern jede einzelne Person muss wirklich ernsthaft selber denken, die Augen weit öffnen, entscheiden, was zu tun ist, und das in die Tat umsetzen. Erinnern Sie sich: Das können wir alle!

Jeder hat Mut, um sich zu ändern. Gewinnen Sie wieder das Selbstvertrauen, das einst beraubt wurde. Wichtig ist auch die Verbindung. Nehmen wir an, dass die Macht der AKW-Befürworter eine vertikal hochragende Mauer ist. Unsere Gegenkraft ist dann die Verbindung, die sich horizontal endlos verbreitet.

Fassen Sie jetzt Ihrem nächsten sanft an der Hand. Sehen Sie gegenseitig an, hören die Kummer einander an. Fangen Sie die Wut und die Tränen des anderen auf. Verbreiten wir die Wärme dieser Hand im ganzen Japan, ja sogar in der ganzen Welt!

Wir sollen der Realität nicht ausweichen. Unterstützen wir gegenseitig und leben mit Leichtigkeit und Fröhlichkeit weiter, wie auch die zu tragende Last unermesslich schwer und der Weg unerbittlich streng ist.

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