Frau Michiko Kinno ist freischaffende Lokaljournalistin von Ofunato, dessen Stadtkern der riesige Tsunami verschwinden liess. Sie schreibt neben journalistische Artikeln auch Blog und Mailmagazin. Sie schreibt sehr aktiv, weil sie die Art und Weise in Frage stellt, wie die durch die Katastrophen vom 11. März 2011 verwüsteten Gebiete heute unterstützt werden. Sie fürchtet, dass die Menschen, die dort leben, ihre Existenz nicht mehr wieder selbstständig sichern können, wenn es so weiter gehen würde.
Frau Kinno half selber die betroffenen Menschen, indem sie in einem Evakuierungszentrum freiwillig arbeitete. Sie beobachtete, dass sich zahlreiche Gruppe freiwilliger Helfer unkoordiniert im chaotischen Katastrophengebiet hin und her bewegten. Auch viele Fernsehkameras waren vor Ort. Die grösseren Zentren, an denen die Fernsehteams stationierten, bekämen viele Hilfsgüter. Die kleineren, die keinen Besuch der Fernsehteams erhielten, erhielten bedeutend weniger, schreibt Frau Kinno in ihrem Mailmagazin.
Unmittelbar nach dem Erdbeben und Tsunami seien die Menschen froh gewesen, dass sie überhaupt etwas anzuziehen hätten. Später sei ein Haufen Kleiderstücke aus dem ganzen Japan hergeschickt, auch neue Waren seien von grossen Kleiderherstellern zur Verfügung gestellt worden. Dann seien die Menschen wählerisch und habsüchtig geworden. Die grösseren Evakuierungszentren seien in gewissem Sinne eine Welt von „Fressen oder Gefressen-Werden“ gewesen.
Der Begriff „Samiklaus“ ist in der Phase neu entstanden. „Es gab Leute, die bei einer Veranstaltung einen grossen Abfallsack mit verteilten Waren voll verstopften“. Sie schleppten dann den Sack zum Auto, sie sahen so wie der Samiklaus am 7. Dezember aus.
Frau Kinno bekam oft zu hören: „Durch die Katastrophe sind die innersten Gedanken der Menschen sichtbar geworden.“ Nach dem Erdbeben und Tsunami war eine sehr schwierige Zeit, aber „die Erfahrung, die Hässlichkeit der anderen zusehen zu müssen, war viel schlimmer“, meinte sie selber auch.
Sie fürchtet aber vor allem, dass die Leute sich an die grosszügigen Unterstützung gewöhnen. Die Hilfe würde nicht ewig kommen, wie würden sie danach weiter leben? Frau Kinno ist der Meinung, schliesslich muss man selber die Initiative ergreifen, um wieder selbstständig leben zu können. „Die Unterstützung ist nötig, aber überflüssige Hilfe verderben Menschen. Diese Situation, in der man irgendwie weiter leben kann, ohne selber etwas zu tun, verhindert es, dass Menschen aus der Zerstörung aufsteht und ihre Unabhängigkeit wiederfindet.“
Frau Kinno wundert sich, warum es heute immer noch Gruppen gibt, nach den Kleidern für Frühling verlangen. Einige Läden seien in den betroffenen Gebieten wieder geöffnet worden, Einkaufsmöglichkeiten seien da. Warum müsste man dennoch die Güter und Esswaren weiter verteilen? „Ist es die Unterstützung?“
„Die armen Betroffenen!“, so sei die Gedanken der Hilfebietenden. Aber bleiben sie in den Gedanken nicht stehen, fragt Frau Kinno. „Ist es wirklich sinnvoll, für die ‚armen‘ alles zu tun?“