Autor: webadmin

Fast 30’000 Menschen leben noch in einem fremden Ort

Vor lautem Caos, dessen Epizentrum sich vor allem in den USA befindet, war dieses Jahr vom verheerenden Ereignis, das vor 14 Jahren die japanischen Inseln heimsuchte, kaum die Rede. Die Folgen der Atomkatastrophe finden jedoch selbstverständlich noch kein Ende und fast 30,000 Menschen leben nach wie vor in einem fremden Ort.

Die japanische Regierung setzt ihre Rückkehr-Politik fort, in diesen einigen Jahren wurde die wegen der fast auf ewig dauernden redioaktiven Verseuchung angeordnete Sperrzone immer kleiner. Allerdings bleibt die Anzahl der Zurückkehrenden viel weniger, als man gehofft hat. Im Verhältnis zum Zeitpunkt des Atomunfalls wohnen heute lediglich 56% in der Gemeinde Naraha. Und das ist die höchste Zahl. Jene der Gemeinde Futaba beträgt nur 3%, berichtet die Tageszeitung Mainichi.

Die oben erwähnte Zahl der Evakuierten ist die offizielle Version. Es gibt auch „inoffizielle“, sogenannte freiwillige Evakuierten. Sehr wahrscheinlich weiss niemand genau, wie viele es davon gibt, weil sie während der Jahren zu schweigen gelernt haben. Die staatliche Unterstützung wird immer dünn, die Erinnerung an die Katastrophe und die Tatsache, dass viele Gebiete immer noch kontaminiert sind, geraten immer mehr in Vergessenheit. Die Menschen, die freiwillig ihre Heimat verlassen haben, leben vermutlich heute noch mit Angst vor Diskriminierung und Unverständnis. Nicht vergessen darf man nicht nur die Atomkatastrophe an und für sich, sondern auch das Dasein dieser Menschen, die sich unsichtbar machen mussten.

Botschaft von MORIMATSU Akiko

Geflüchtete aus Fukushima, zum 14. Jahrestag von Fukushima

14 Jahre sind vergangen seit dem Nuklearunfall von Fukushima Daiichi, der sich als Folge der Naturkatastrophe vom 11. März 2011 ereignete. Dieser Nuklearunfall ist noch lange nicht vorbei und verseucht weiterhin das Meer, die Luft und das Land.

Ich bin empört darüber, dass keiner der Verantwortlichen des Atomkraftwerkes die Tatsache anerkennt, dass das Fukushima Daiichi noch weit entfernt von einem Zustand „unter Kontrolle“ ist.

Dabei sind noch immer, 14 Jahre nach dem Unfall, sehr viele Menschen auf der Flucht, um die Strahlenexposition zu vermeiden. Die Zahl beläuft sich auf 29.000, zerstreut über alle 47 Präfekturen Japans*1; sie hoffen weiterhin auf Unterstützungen und Beihilfe von der Regierung. Diese Zahl zeigt allerdings nur diejenigen an, die beim Amt für Wiederaufbau registriert sind. Die Regierung hat es seit der Nuklearkatastrophe versäumt, die Zahl der tatsächlich Geflüchteten zu erfassen. Es gibt viel mehr Menschen, die gezwungen waren, aus der Heimat zu fliehen, die aber keinerlei Unterstützung von der Regierung erhalten und unter den prekären Umständen leiden. Gleichzeitig gibt es viele, die sich zwar umzusiedeln wünschen, aber es nicht wagen oder können, da sie auf keine Unterstützung
oder Wohnungsbeihilfe der Regierung hoffen können.

Ich bin Mutter von zwei Kindern. Als der Nuklearunfall passierte, waren sie erst drei Jahre alt und fünf Monate alt. Seit dem Unfall lebt mein Mann, der Vater meiner Kinder, in der Stadt Kooriyama in der Präfektur Fukushima, getrennt von uns – ich wohne in Osaka mit den Kindern. Diejenigen, die aus dem Gebiet stammen, das radioaktiv verseucht wurde, aber nicht zur Zwangsevakuierungszone“ erklärt worden war, sahen sich oft gezwungen, um die vulnerablen Kinder vor der Strahlung zu schützen, auf eigene Faust zu fliehen, meist ohne Ehemänner und Väter. Es gibt heute noch zahlreiche Mütter und Kinder, die auf der Flucht außerhalb Fukushimas leben, ohne dass sie jegliche finanzielle oder materielle Unterstützung des Staates beziehen können.

Wenn die Regierung weiterhin die Atomenergie als nationale Politik fördert und auf keinen Fall auf die Atomkraft verzichten will, bedeutet es im Umkehrschluss, dass sie es in Kauf nimmt, dass die Bevölkerung ungewollten Strahlenbelastungen ausgesetzt werden könnte.

Gleichzeitig kann der Staat den Bürgern des fundamentalen Menschenrechts berauben, vor der Gefahr der Strahlen zu fliehen und sich zu schützen. In der Tat werden in Japan die Geflüchteten aus Fukushima stigmatisiert und werden oft zum Objekt des Mobbings, sie werden sogar dafür beschuldigt, dass sie angeblich „üble Gerüchte“ verbreiten und dadurch ihre Heimat schädigen würden.

Hier möchte ich mit aller Schärfe betonen, dass dieses Thema nicht nur uns aus Fukushima betrifft. Fragen Sie sich selbst, Hand aufs Herz, ob Sie, im Fall einer Bedrohung durch nukleare Schäden, den Stärkeren zur Seite stehen wollen, die der Bevölkerung die radioaktive Exposition aufzwingen, oder denjenigen, die ihr Bestes tun, um das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen. Diese elementare Frage möchte ich gern mit Ihnen teilen.

2025 jährt sich das Ende der Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Letztes Jahr erhielt die Nippon Hidankyô den Friedensnobelpreis und hielt als Vertreter der „Hibakusha“ eine Rede auf  internationaler Bühne. Dadurch wurde der Begriff „Hibakusha“ weltweit in den Fokus gerückt. Jetzt ist die Zeit reif dafür, dass man es international als Allgemeingültigkeit anerkennt, prinzipiell das Leben vor radioaktiven Strahlen zu schützen. Ich möchte weiterhin dafür meine Stimme erheben als Strahlenopfer aus Fukushima und für dieses Recht kämpfen. Lassen Sie uns gemeinsam, solidarisch unser elementares Recht einfordern!

Zum 11. März 2025

MORIMATSU Akiko
Vertreterin der Klägergruppe Kansai gegen den Staat und Tepco
Ko-Vertreterin des nationalen Verbindungsausschusses der Klägergruppen
aus Opfern des Fukushima-Atomunfalls
Übersetzung: Sayonara Nukes Berlin

Eine Botschaft von TARACHINE

Über Tarachinie, die Hilfsorganisation für die Betroffenen von der Atomkatastrophe Fukushima, habe ich einmal berichtet. Ich spende regelmässig Geld für sie und erhalte jährlich eine Dankes-E-Mail.

https://koyama-luethi.ch/2023/05/10/npo-tarachine/

Es ist eine Tatsache, dass es immer schwieriger wird, Stimmen der Betroffene zu hören bekommen. Nur noch ganz wenige sprechen ihre Meinungen und über eigene Erfahrungen, weil sie in diesen13 Jahren genügend öffentlichen Druck gespürt haben. Aber ihre Angst vor der radioaktiven Verseuchung und deren Auswirkungen auf sie und besonders auf ihre Kinder sowie die Umwelt bleibt. Ich möchte hier mit Erlaubnis der Organisation einen Teil der Dankes-E-Mail veröffentlichen.

***

Nach dem Atomunfall in Fukushima hatte und hat der wirtschaftliche Wiederaufbau Vorrang, um diesem Ort dieselbe Form wie vor dem Unfall zurückzugeben. Hingegen wird die Betreuung der Natur und die Sorge für Kinder links liegen lassen. Vor dieser Realität konfrontieren wir immer mehr mit den ernsthaften Folgen der Atomkatastrophe. Wir machen uns ernsthaft Sorgen um die Zukunft.

Aktiv sind wir seit dreizehn Jahren und wir sind der Meinung, dass die richtige Unterstützung erst jetzt gefragt wird, weil der Atomunfall in Vergessenheit gerät und über seine Folgen nicht mehr gesprochen werden.

***

Botschaft von Frau Ruiko Muto zum 11. März

Zu Neujahr 2024 hat ein Erdbeben der Stärke 7,6 auf der Richterskala die Halbinsel Noto heimgesucht. Durch den anschließend ausgelösten Tsunami mit der maximalen Wellenhöhe von 5,1 Metern und Brände sind viele Menschen gestorben, vermisst und zu Opfern der Tragödie geworden (*1). Auch viele Menschen, die vor 13 Jahren von der dreifachen Katastrophe (Erdbeben, Tsunami und Nuklearunfall) betroffen waren, mussten Flashbacks erleiden in Sorge vor einem erneuten Super-GAU an einem AKW.

Der einzige Trost war, dass das AKW Shika in der Präfektur Ishikawa und das AKW Kashiwazaki-Kariwa in der Präfektur Niigata ausgeschaltet sind, obwohl die AKW-Betreiber seit langem auf Hochtouren darauf hinarbeiten, die beiden wieder in Betrieb zu nehmen, und dass der Bauplan eines AKW Suzu seit langem auf Eis liegt, denn dort waren die Schäden des Erdbebens besonders schwer. Vom AKW Shika wurde unter anderem berichtet, dass die Stromversorgung teilweise unterbrochen war, ein Teil der Notfallaggregate außer Betrieb gesetzt wurde, 20.000 Liter Öl von Transformatoren durchgesickert waren und Wasser aus dem Abklingbecken mit den Brennelementen durchs Beben überschwappte, aber das Ausmaß des gesamten Schadens steht noch nicht fest. Bei diesem Erdbeben haben sich insgesamt 150 km lange aktive Verwerfungen bewegt, was dann Risse oder Klüfte im Boden, Bodenverflüssigungen und Bodenhebungen verursachte. 

Es ist uns wieder einmal vor Augen geführt, wie gefährlich es ist, im erdbebenreichen Inselland Japan Atomkraftwerke zu betreiben. Letztes Jahr wurde aber ein neues Gesetz namens Green Transformation (abgekürzt als GX) verabschiedet, das, während es angeblich den CO2-Ausstoß zu reduzieren beabsichtigt, das Land verstärkt auf Atomenergie zu setzen erlaubt, so dass die abgeschalteten Reaktoren nach und nach wieder in Betrieb genommen werden sollen. Indes vergrößert sich die Wahrscheinlichkeit weiterer schweren Erdbeben in mehreren Regionen in Japan wie Nankai-Graben, Kurilen-Graben und Miyagi-Küstengebiet, so dass wir es sehr als höchstgefährlich erachten, Atomkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen.

Japan hat außerdem im August letzten Jahres angefangen, mit ALPS-Filteranlagen bearbeitetes verseuchtes Wasser aus dem havarierten AKW in Fukushima ins Meer abzuleiten. Ich durfte kurz vor dem Beginn dieser Verklappung an Bord eines Schiffes für Meeresuntersuchungen von der unabhängigen Strahlungsmessstation Tarachine der Bürgerinitiative der Stadt Iwaki sein. Als wir etwa 1,5 km von der Küste entfernt waren, an der das Fukushima Daiichi liegt, betrachtete ich die Atomruine mit Verzweiflung. Seit dem Super-GAU ist eine große Menge von radioaktiven Stoffen von dort kontinuierlich ins Meer geflossen und fließt noch immer. Das ist unverzeihlich, dass sie in den nächsten Jahrzehnten zusätzlich noch mehr verseuchtes Wasser ins Meer kippen wollen. Ich bedauere sehr, dass wir dieses Vorhaben nicht im Voraus verhindern konnten.

Aber da wir noch immer nicht aufgeben wollen, haben wir eine Klage beim Gericht eingereicht, um die Unterlassung der Ableitung des verseuchten Wassers ins Meer zu erzwingen. Die Klägergruppe besteht aus 363 Fischern, Beschäftigen der Fischindustrie und Bürgern aus der Region. Wir fordern von TEPCO in einer Zivilklage die Unterlassung der Verklappung sowie vom Staat den Widerruf der Genehmigung in einer Verwaltungsklage, da diese das Fischereiausübungsrecht, das Persönlichkeitsrecht sowie das Recht auf ein friedliches Leben verletzt, wobei wir insbesondere für die folgenden Punkte plädieren:

1) Der Umweltschutz ist eine internationale Übereinkunft gemäß den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung;

2) TEPCO hat mit dem Start der Verklappung das Versprechen gebrochen, das sie einst selbst den Betroffenen abgegeben hatte (*2);

3) TEPCO als Verursacher der Kontamination und der Staat als Verantwortlicher für den Unfall tragen die Pflicht, eine möglichst umweltschonende alternative Lösung anzuwenden;

4) Der umfassende Bericht von IAEA rechtfertigt keineswegs die Verklappung, sowie 

5) Die Umsetzung des Vorhabens ohne Rücksicht auf erhebliche Einwände von der internationalen Gesellschaft, die ein diplomatisches und ethisches Problem darstellt. 

Die erste Verhandlung findet am 4. März 2024 im lokalen Gericht der Präfektur Fukushima statt. 

Das Jahr 2024 hat turbulent begonnen. Unsere Erde ist aber wie noch nie so gefährdet wie heute mit all den Gefahren eines Atomkrieges, der Klimakrise, von tektonischen Bewegungen und der globalen Meeresverschmutzung. Umso mehr müssen wir unsere Anstrengungen steigern, um alle Atomkraftwerke stillzulegen. Lasst uns gemeinsam stark sein, damit wir der Realität ins Auge sehen, ohne den Blick abzuwenden, und Problemen entgegentreten können. Sowohl Frieden, Liebe als auch Harmonie des Lebens ist bei jedem Einzelnen von uns vorhanden.

*1) 241 Tote, 7 Vermisste, 77.804 betroffene Haushalte, stand: 1. März 2024

*2) TEPCO hat 2015 dem Fischerverband der Präfektur Fukushima ein schriftliches Versprechen gegeben, dass das Wasser in den Tanks auf dem Gelände des Fukushima Daiichi ohne Einverständnis der Betroffenen nicht beseitigt werde.

zum 11. März 2024 in Fukushima,

Muto Ruiko

Sprecherin der Klägergruppe gegen TEPCO 

http://hidanren.blogspot.com
http://kokuso-fukusimagenpatu.blogspot.com/p/blog-page_5112.html

(Übersetzung aus dem Japanischen: Sayonara Nukes Berlin)

Müssen die freiwilligen Geflüchteten zurück nach Fukushima?

Heute leben noch immer rund 26’000 Menschen von denen, die vor 13 Jahren ihre Heimat verlassen haben, in einem anderen Ort. Das ist die offizielle Version. Die inoffizielle Zahl der Geflüchteten, darunter auch diejenige, die auf eigene Faust eine sicherere Gegend gesucht haben, ist unbekannt.

Damals entstanden diverse Trennungen in der japanischen Gesellschaft: Zwischen Geflüchteten, die von der Regierung angewiesen wurde, und solchen, die freiwillig ihr Haus verliessen. Zwischen jenen, die vom Staat finanziell unterstützt wurden und solchen, die auf eigene Beine stehen mussten. Und zwischen direkt Betroffenen und aussen Stehenden.

Es gab auch Diskriminierungen gegenüber Geflüchtete. Unverständnis und Ignoranz. Darunter litten und leiden Menschen.

Heute bald 13 Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima sind Diskussionen um die Betroffenen scheinbar von der Oberfläche der Gesellschaft verschwunden. Man interessiert sich nicht mehr für den Zustand des havarierten Atomkraftwerks und die Situation der direkten und indirekten Betroffenen.

Aber sie verschwinden nicht von der Gesellschaft. Probleme bleiben.

Als die Geflüchteten ihre Heimat hinter sich liessen, wussten sie nicht, wann oder ob sie wieder nach Hause zurückkehren können. Sie haben inzwischen in einem fremden Ort ein neues Leben aufgebaut. Kinder sowie Erwachsene passten sich an die neue Situation.

Auf der anderen Seite wurde die Dekontaminierungsarbeit im verseuchten Gebiet immer fortgesetzt, mit der Absicht, dort wieder bewohnbar zu machen. Der Staat und die Präfektur hörten ab 2017 mit der finanziellen Unterstützung und Wohnungshilfe nacheinander auf und stellten die geflüchteten Familien alleine da. Auf kritische Stimmen von den Betroffenen reagierte die Gesellschaft teilweise kalt, „sie können in die Heimat zurückkehren.“ Während des Jahrzehntes haben sie aber die Basis des Lebens in dem neuen Ort geschaffen: Kinder gehen in die Schule, Eltern fanden einen neue Stelle. Oder die Ehe ging aufgrund des Meinungsunterschieds auseinander. Ist es realistisch zu verlangen, jetzt einfach so nach Hause zu kehren? Manche haben immer noch Angst vor Strahlung. Die offizielle Erklärung des atomalen Ausnahmezustands gilt heute noch.

Mit der Zeit wird das Leben der Betroffenen nicht leichter. Für die immer grösser werdenden Kinder braucht man immer mehr Geld. Im städtischen Gebiet können vor allem ältere Menschen kein soziales Netzwerk mehr verknüpfen. In einem fremden Umfeld ging der Sinn des Lebens verloren. Solche Leiden können im Lauf der Zeit nicht einfach verschwinden, sondern sie könnten sich immer mehr vertiefen.