Monat: Juli 2011

Nicht mehr viel über die aktuelle Situation des AKWs berichtet

Den Namen Fukushima nahmen die Schweizer Medien erst wieder in den Mund, als eine Unwetterkatastrophe in der Region Tohoku einige Todesopfer forderte. Ansonsten wird hier zu Lande nicht mehr viel über die Katastrophe berichtet. Einen Vorwurf kann man den Schweizer Median jedoch nicht machen, da selbst in Japan darüber immer weniger berichtet wird.

Vor einigen Tagen schrieb ich wieder eine Mail an Frau Minako Azami (siehe den Bericht vom 19. Mai). Ich wollte wissen, ob sie etwas Neues mitzuteilen hätte. Ein paar Tage später schrieb sie mir zurück.

Sie beklagt sich, dass die nationalen Nachrichtsendungen nicht mehr viel über die aktuelle Situation des AKWs Fukushima I berichten. Sie befürchtet, dass die Katastrophe in Vergessenheit gerät.

Der lokale Fernsehsender leiste hingegen wichtige Beiträge für die Bewohner der Region. „Auch vor einigen Tagen hat er von Zuschauern ihre Meinungen, Wünsche und Fragen an das Ministerium für Erziehung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie gesammelt.“ Ein Ansager einer Nachrichtsendung fasste sie zusammen und richtete sie direkt an das Ministerium. Er stellte unter anderem eine Forderung, den Arbeitsplan zur Dekontamination zu veröffentlichen.

„Aber so eifrig wir auch sind, spüre ich gleichwohl, dass die Regierung in Tokyo nur langsam die nötige Unterstützung anrollen lässt. Allein beim Abschaben der kontaminierten Erde aus den Schulhöfen hinkt die Hilfe des Staates derjenigen der Präfekturen und Gemeinden hinterher. Um einen Dosimeter (Strahlenmessgerät) für die Bevölkerung kümmert sich die Regierung auch nicht, wir kaufen deshalb selber einen oder die Gemeinde leiht uns einen aus.“

Frau Azami vermutet, dass Menschen, die sich immer noch in provisorischen Lebensumständen befinden, nicht gross jammern und um Hilfe bitten, was Ihnen eigentlich zustehen würde.

Sie stellt sich auch vor, dass nach dem Auftauchen des mit Radioaktivität verseuchten Rindsfleisches das Ausmass der Gerüchte zunimmt und dem Image der Bauern schadet.

Das Wort „Fûhyô-Higai“, das auf Japanisch Schaden (Higai) durch Gerüchte (Fûhyô) bedeutet, bekommt man nach dem AKW-Unfall sehr oft zu hören.

„Um das Fûhyô-Higai zu verhindern, müssen die Bewohner der Präfektur Fukushima auch selber aktiv werden. Wir können nicht nur versichern, dass unsere Produkte gut schmecken. Wir sollen zusätzlich ein Zeugnis ausstellen, das beweist, dass unser Gemüse und Fleisch qualitativ in Ordnung ist.“

Sie schlägt vor, dass die Strahlungsdosis im Feld täglich gemessen und publik gemacht werden sollte. „Wir müssen uns anstrengen, um das Bewusstsein der Konsumenten zu ändern.“ Sie kaufen heute Produkte aus Mitleid, weil ihnen die Leute in Fukushima leid tun, so Frau Azami. In Zukunft sollen sie aber das Gemüse kaufen, weil sie die Qualität wieder schätzen und dabei sich sicher fühlen können. „Ich selber bin keine Bäuerin, aber ich wünsche mir, dass die Situation sich schrittweise verbessern wird.“

Eine Familie in Ofunato

Katsushi Hirayama wohnt heute in Tokyo. Seine Heimat aber ist die Stadt Oofunato von der Präfektur Iwate. Der pensionierte Japaner hat im Jahre 1960 einen grossen Tsunami erlebt, der durch das Erdbeben in Chile ausgelöst wurde und um die halbe Erde raste und schliesslich die Nordostkünste Japans zerstörte.

Diesmal war er in Tokyo, als der monströse Tsunami kam. Danach ging er nach Tohoku, um einen Trostbesuch bei seiner Familie, seinen Verwandten und Freunden zu erstatten.

In Oofunato wohnte sein 87- Jähriger Bruder mit seiner Frau zusammen in einem Haus. Ihre zwei Schwestern wohnten in einem anderen Wohnhaus, das auf demselben Grundstück stand. Die beide Häuser wurden durch den  Tsunami weggerissen und zerstört. Der Tsunami war für die Hausbewohner bereits der dritte. Der erste kam 1933, der zweite im Jahre 1960.

20110315Hirayama hat am 11. März eine Tante und zwei Cousins verloren. Die Leichen wurden identifiziert. „Es gibt noch Vermissten, aber die Suchaktion wurde drei Monate nach dem Tsunami eingestellt“, schrieb er mir.

„Eine Tragödie findet in der Umgebung vom AKW Fukushima I statt. Es heisst, dass etwa 1000 Leiche dort herumliegen, weil sie durch die Strahlung stark verseucht sind können sie nicht eingesammelt werden.“

Er will Ende des Monats wieder nach Tohoku reisen, um die Menschen zu ermutigen und um ihnen zu helfen. Er denkt, dass auch Tokyo die Folgen der Radioaktivität zu spüren bekommt, er macht sich Sorgen um die Zukunft der Kinder.

20110315jinomoriDas Foto rechts oben wurde Mitte März vom Ehemann seiner Schwester  aufgenommen. Darauf sind die Gleise zu sehen wo sich früher unmittelbar das Haus der Familie Hirayama befand. Diese Gegend wurde auch beim Chile-Tsunami von 1960 im gleichen Ausmass vernichtet.

Nach dem Chile-Tsunami zog sich seine Familie ins Landes innere zurück. Jedoch 50 Jahre später raubte der Tsunami wieder ihre Existenz.

Auf dem linken Foto sind die Frau seines Bruders und seine Schwester zu sehen. Links neben dem auf dem Trümmer liegenden Motorroller standen die beiden Häuser.

400 Rinder mit verseuchten Stroh gefuttert

Über den Sieg der japanischen Frauenfussballmannschaft an der WM in Deutschland wurde selbstverständlich auch in Japan gross berichtet und gejubelt. Die Spielerinen haben uns allen Japanern Mut und Hoffnung gegeben.

Ungeachtet dessen nehmen die Folgen des Atomunfalls weiter zu. Bis heute steht fest, dass mehr als 400 Rinder von der Präfektur Fukushima mit dem von Cäsium stark verseuchten Stroh gefüttert wurden und dass das kontaminierte Fleisch auf den Markt gebracht wurde.

Die Bauern haben das verseuchte Futter von den Strohproduzenten aus der Präfektur Miyagi gekauft. Miyagi ist bekannt für eine Strohproduktion guter Qualität. Weil der Ort, im nördlichen Teil der Präfektur, fast 150 km entfernt vom AKW Fukushima liegt, ahnten die Produzenten nicht im geringsten, dass ihr Stroh stark verstrahlt war. Mittlerweile wurde das kontaminierte Rindsfleisch auch ausserhalb Fukuoka gefunden. Die japanische Regierung ordnete nun die Einstellung des Handels von Fukushima-Rindsfleisch an.

Gemäss der Asahi-Zeitung vom 20. Juli wurde ausserdem informiert, dass insgesamt 251 Feuerwehrleute von den Präfekturen Iwate, Miyagi und Fukushima durch den Tsunami ums Leben kamen. Sie waren an einer Rettungs- oder Evakuierungsaktion beteiligt, als sie vom Tsunami überrascht wurden.

Von einem freiwilligen Helfer

Tomoya Higashigaki ging Ende April als freiwilliger Helfer ins betroffene Gebiet und arbeitete dort für fünf Tage während der „golden week“ (siehe Seite Mai 2011). Er ist 29 Jahre alt und berufstätig. Er schrieb mir einen Bericht über seine Tätigkeit und eine Botschaft an uns alle. Ich habe seinen Text ins Deutsche übersetzt.

***

Vor Ort war damals das Bahn- und Strassennetz noch völlig zerstört. Am Benzin mangelte es auch. Ich musste unzählige Male vom Zug in den Bus und umgekehrt umsteigen, um von meiner Wohnpräfektur Nara her die Stadt Kesennuma in der Präfektur Miyagi zu erreichen. Insgesamt war ich 24 Stunden unterwegs. Ich ging alleine, ein Zelt und einen Schlafsack habe ich mitgenommen. Die Convinience Stores und Supermärkte waren bereits wieder geöffnet und Esswaren konnte ich mir vor Ort beschaffen. Aber die Wasserleitung funktionierte nicht (die Hälfte des Gebiets hat heute noch kein fliessendes Wasser), ich putzte mir das Gesicht und die Zähne mit dem gekauften Mineralwasser.

Wie Sie vielleicht wissen, werden in der Präfektur Miyagi neben Fukushima nach wie vor sehr hohe Strahlungswerte gemessen. Die kontaminierte Fläche entspricht 1.8-Fach von jener, die beim Atomunfall Tschernobyl wegen der Strahlung zur Zwangsräumungszone erklärt wurde. In Tohoku schnellen die Werte nicht mehr plötzlich hoch, sie machen aber auch keine Anstalten zu sinken.

Ich habe eine Familie. Am Anfang waren alle wegen der Radioaktivität dagegen, dass ich als freiwilliger Helfer in den Norden gehe. Aber ich konnte die Region Tohoku nicht im Stich lassen.

Ich hatte schon als Kind Sehnsucht nach einer reichen und doch schlichten Natur und Landschaft in Tohoku. Deshalb wollte ich unbedingt auf die Uni in der Region gehen und das tat ich auch. Diese Region ist für mich ein spezieller Ort. Das ist auch meine Motivation, meinen Landsleuten, die in Not geraten sind, zu helfen und nicht einfach tatenlos zuzuschauen.

Erst vor Ort wurde mir klar, dass der Schaden so riesig ist, dass die Einwohner und die kleineren Gemeinschaftseinheiten wie Gemeinde und Präfektur alleine aus dieser Not nicht herauskommen können. Das Wort „Wiederaufbau“ kann erst sichtbar werden, wenn nicht nur die japanische Regierung sondern auch alle Menschen in Japan und Leute im Ausland, die an Japan denken, Tohoku unterstützen. Jeder steht in einer anderen Situation; Reiche, Arme, jene, die in der Lage sind, nach Tohoku zu gehen, und solche, die es nicht tun können. Aber ich möchte nur eins sagen: „Lassen Sie das betroffene Gebiet nicht im Stich.“ Ich denke, es ist wichtig, dass jeder tun, was er kann. Wir sollen nicht übertreiben. Im Rahmen des Möglichen kann jeder Tohoku in seiner Art unterstützen, das wünsche ich für Tohoku.

Ich persönlich:

– kaufe Waren, die vermutlich momentan in Tohoku benötigt werden, im Rahmen meiner Möglichen und sende sie einmal im Monat so nach Kesennuma, dass sie am 1. Tag des Monats eintreffen. Wenn man sein Geld für irgendeine Organisation spendet, braucht sie oft viel Zeit, bis sie das Geld an die Betroffenen verteilt. Es kam bereits schon oft vor, dass die eingetroffenen Waren vor Ort in dem Zeitpunkt nicht mehr benötigt wurden. Empfehlen würde ich hingegen auch, dass Sie sich für Ihre Unterstützung nur auf einen Ort konzentrieren.

– trage immer Fotos mit, die ich vor Ort gemacht habe, um sie möglichst vielen Menschen zu zeigen. Ich erzähle auch realistisch was in Tohoku geschieht und was die Betroffenen am dringensten brauchen.

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Das tue ich heute und bin noch auf der Suche, was ich weiter tun kann. Es wäre gut, wenn ich noch öfters Tohoku besuchen könnte, aber die Distanz nach Tohoku ist gross und ich kann nicht so oft hinfahren wie ich eigentlich will. Es ist sehr ärgerlich.

Das Viertel Motoyoshi in der Stadt Kesennuma ist mittlerweile meine zweite Heimat geworden. Ich werde sie so lange wie möglich unterstützen, damit ein Wiederaufbau realisiert werden kann. Ich möchte hier ein paar Fotos zeigen.

Beim ersten Foto sieht man, wie gewaltig der Tsunami war. Dieser Ort befindet sich 4 km vom Strand entfernt. Der Tsunami strömte über den Fluss stromaufwärts und suchte die vom Meer weit entfernten Gemeinden heim. Von diesem Ort ist das Meer überhaupt nicht zu sehen.

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Der Ort des zweiten Fotos ist 2 Km vom Strand entfernt. Früher waren hier Reisfelder, Wohnhäuser und kleine Fabriken zu sehen.

Heute liegen die Reisfelder unter dem vom Tsunami mitgebrachten Schlamm und die Wohnhäuser sind spurlos verschwunden. Nur noch Ersatzteile und Maschinen von den Fabriken liegen auf einer riesigen Fläche herum.

Das letzte Foto liegt mir am meisten am Herzen. Als freiwilliger Helfer räumte ich Trümmer, die auf eine Anhöhe getrieben wurden, weg.

Dort fand ich in den Schränken viele Fotos von Kindern, Sparbücher und Grundbuchauszüge.

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Aber auch überall verstreut lagen Fotos und Sparbücher herum. Die Trümmer (ich benütze allerdings das Wort nicht gern) kann man mit Hilfe einer Maschine einfach entfernen, aber kann man diese Fotos und Sparbücher dann auch zu den Trümmer zählen? Darf man sie als Abfall betrachten? Was meinen Sie dazu? Ich glaube es nicht.

Für eine Maschine, die kein Gefühl hat, sind alle herumliegenden Dinge nichts anderes als Trümmer und Abfälle. Dies zu unterscheiden können nur Menschen. Ihre Kraft ist geringfügig, aber sie haben das Gefühl. Das ist meine Botschaft.

Tsunami macht nicht nur Gebäude kaputt sondern auch Gesellschaft und Menschen

KesennumaIDieses Foto hat Frau Hotate Kajiwara von der Stadt Kesennuma in der Präfektur Miyagi gemacht. Sie wohnt hier. In den zurückgebliebenen Häusern wohnen Leute wieder. Aber aus jedem Fester sind immer noch herumliegende Trümmer zu sehen. Zwischen den Spuren des grausamen Tsunamis müssen sie mit traurigen Erinnerungen tagtäglich gehen.

Die Behörde bauen eifrig provisorische Wohnungen für die Leute, die durch Tsunami ihre Hab und Gut samt Wohnhaus verloren haben. Je nach Ort warten Leute, in eine Wohnung einzuziehen, oder sie steht leer, weil die Betroffenen vom neuen Wohnort nicht mehr zur Arbeit pendeln könnten oder weil sie Angst haben, in einem völlig unbekannten Ort zu wohnen.

Durch die Evakuierung oder das Umziehen gingen viele Kreise des Zusammenlebens auseinander. So wohnen jetzt zahlreiche Betagte in einer fremden Umgebung buchstäblich alleine. Manche kommen tagelang nicht dazu, mit jemandem zu reden. Psychologisch sind sie auch instabil, die Furcht beim Ereignis und das Schock davon, dass sie Freunde oder Familieangehörige verloren haben oder dass jemand von ihrem Bekanntenkreis noch vermisst wird, sind noch tief in sich verankert, Tränen kommen ihnen immer wieder.

Seit dem Erdbeben steigt der Zahl des Selbstmords. Im Vergleich zur selben Zeit vor einem Jahr ist die Zahl im Monat immer höher. Im Juni haben sich 2996 Menschen in ganzen Japan das Leben genommen. Das sind 8% mehr als letztes Jahr. Der Zusammenhang mit der Katastrophe ist jedoch nicht klar.

Einzelne Fälle sind aber bekannt. Ein Bio-Bauer in Fukushima, der in vergangenen 30 Jahren die Qualität der Erde für Bio-Gemüse verbessert hat, war so zweifelt, dass er Selbstmord begangen hat. Er ist nicht der einzige Bauer, der sich nach 11. März für das Beenden des eigenen Lebens entschieden hat.